Zitat Seite 45 aus der Doktorarbeit „Evidenzbasierte Analyse von Beiträgen zur zahnärztlichen Funktionsdiagnostik in der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift im Zeitraum zwischen 1960-2000 “ von Dr. Anna Genius in Düsseldorf 2011.
Zusammenfassung
Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit war es, den Evidenzgrad von Publikationen zum Thema zahnärztlicher Funktionsdiagnostik in einer führenden deutschsprachigen zahnmedizinischen Zeitschrift zu prüfen. Da der Evidenzgrad von dem Studientyp abhängig ist, sollte untersucht werden, welche Studientypen mit welcher Häufigkeit vorkommen und ob eine Entwicklung in dem untersuchten Zeitraum zu erkennen ist.
Hierzu wurden die Jahrgänge 1960 bis 2000 der Deutschen Zahnärztliche Zeitschrift (DZZ) durchsucht. Die Recherche erfolgte mittels Handsuche und wurde von zwei Untersuchern, die unabhängig voneinander arbeiteten, durchgeführt. Von den Gesamtpublikationen wurden jene mit funktionsdiagnostischer Thematik ermittelt und einem Studientyp zugeordnet. Im Anschluss wurden die Ergebnisse von beiden Untersuchern miteinander verglichen und analysiert. Dieses Verfahren wurde durchgeführt, um möglichst sichere Ergebnisse zu erzielen.
Die Ergebnisse zeigen, dass von insgesamt 8335 gezählten Veröffentlichungen 126 (1,5%) als Beiträge zur zahnärztlichen Funktionsdiagnostik identifiziert wurden. Der am meisten vertretende Studientyp waren Fallserien mit 65 Veröffentlichungen (52%), gefolgt von Expertenmeinungen mit 34 Publikationen (27%). In-vitro-Studien sind mit 15 (12%), Fallberichte mit zehn (8%) und Fall-Kontroll-Studien mit zwei (1%) Beiträgen in dem untersuchten Zeitraum vertreten. Studien starker Evidenz wie die Metaanalyse, die randomisierte kontrollierte Studie und die Kohortenstudie konnten nicht ermittelt werden. Auch konnte in dem untersuchten Zeitraum keine positive Entwicklung in Richtung höherer Evidenzgrade gezeigt werden.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass der evidenzbasierten Funktionsdiagnostik noch relativ geringe Bedeutung zukommt. Zum einen ist die zahnärztliche Funktionsdiagnostik mit 1,5% aller Veröffentlichungen recht gering vertreten, zum anderen sind die Beiträge größtenteils von geringem Evidenzgrad. Offenkundig hat die Evidenzbasierte Zahnmedizin allgemein noch nicht so einen hohen Stellenwert erreicht wie in der Humanmedizin. Jedoch zeigen Publikationen und Workshops ab dem Jahr 2000, dass auch in der Zahnmedizin die Notwendigkeit von evidenzbasierten Studien erkannt wurde und zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Ende des Zitats aus der Doktorarbeit
Was will uns diese Zusammenfassung sagen?
Ausweislich der hier vorliegenden Fleißarbeit hat es in Deutschland nicht eine einzige ernst zu nehmende RCT (= randomized controlled trial = Test mit verschiedene Therapien, die per Zufallsentscheidung auf echte Patienten verteilt werden) gegeben, und zwar im Zeitraum 1960 – 2000 im Bereich der Funktionslehre. Ganz sicher wissen wir es nun von der Zeitschrift DZZ, ich melde aber auch gleich großen Zweifel an, ob irgendeine der wenigen anderen deutschsprachigen „wissenschaftlichen“ Journale in diesem Zeitraum eine entsprechende RCT Studie veröffentlicht hat. Ziemlich unwahrscheinlich.
Damit zeigt sich die traurige Wahrheit, dass so gut wie alles, was wir von der so genannten „Funktionslehre“ oder noch hochtrabender „Funktionsdiagnostik“ wissen, schlichtweg nicht bewiesen ist. Fallstudien und „Expertenmeinungen“ werden in der moderen EBM (= Evidence Based Medicine = auf Beweisen fußende Medizin) seit mindestens 20 Jahren als das betrachtet, was sie sind: Meinungsäußerungen. Beweise sehen anders aus. Es reicht eben nicht aus, dass Dr. D aus D. wiederholt seine Meinung äußert, wonach ein gezieltes Beschleifen („Einschleifen“ genannt) lebender Zähne eine korrekte Behandlung von Schmerzen im Bereich des Bermuda Dreieckes Ohr Unterkiefer Schläfe darstellen täte.
Unter akzeptablen Beweisen im Sinne der Sache verstehen wir dagegen: Doppelblinde (= der Patient weiß nicht, was bei ihm gemacht worden ist, und der Nachuntersucher der Ergebnisse weiß nicht, was am Patienten passiert ist) randomisierte kontrollierte Studien vergleichen z.B. folgende Verfahren gegeneinander: 1. Das „Einschleifen“, 2. Eingliederung einer Schiene ohne Schleifen und 3. Placebo-Einschleifen (= so tun als ob geschliffen würde). Und das Ganze mit einer ausreichend hohen Fallzahl von nicht weniger als 100 Versuchspersonen.
Und wenn man das so durchführt – und diese Versuche gibt es seit langem (!) in den USA – dann stellt sich heraus, dass entgegen der Überzeugung des Dr. D. aus D. das irreversible Kürzen lebender Zähne keine vollständig ausgegorene Idee ist. Sie verbessert im Durchschnitt aller Schmerzfälle mit TMD (in Deutschland noch hartnäckig CMD genannt) die geringste Patientenmenge im Vergleich zu Placebo Einschleifen (1. Platz) und Schiene (2. Platz).
In der Zusammenfassung oben taucht das Wort „In-Vitro“ Studie auf. Direkt übersetzt bedeutet das „Im Glas“ Studie, also im Reagenzglas. Sicher eignen sich Reagenzglas Studien für die Erforschung von Desinfektionsmittel auf Keime und ähnliches. Wie aber ein so komplexes Problem wie TMD im Labor, also ohne Patienten, studiert werden kann, erschließt sich mir nicht. Kurzfassung: Die „In-Vitro“ Studien haben mehr oder weniger Null Beweiskraft.
Merksatz
Wer heute noch das Wort „Funktionsdiagnostik“ in den Mund nimmt, sollte sich schon mal überlegen, was er dem Patienten antwortet, der diesen Absatz hier liest.